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blogEin Brief, der ein Leben veränderte

Ein Brief, der ein Leben veränderte

PARLAMENSCH NR. 310 | Siegrun Werner

Anna K. (Name von der Redaktion geändert) hat im Rahmen des Neustrukturierungsprogramms Z-241-35 die hoheitliche Legitimation erhalten. Seitdem hat sich ihr Leben verändert – nicht nur zum Positiven. Mit einem Anliegen wandte sie sich an den „Parlamensch“.

Anna K. möchte unerkannt bleiben. Zwar sei ihr „Name ohnehin auf der Liste“, dennoch erhoffe sie sich vom Gespräch, dass Menschen auf mehr auf ihre Situation und weniger auf ihre Person aufmerksam würden. Frau K. ist eine der, im Volksmund mittlerweile als ‚Auserwählte‘ betitelten, Bürger*innen, die im Rahmen des Neustrukturierungsprogramms Z-241-35 eine unverhoffte Chance, wie auch eine Bürde auferlegt bekamen. Es folgt ein Gespräch mit Frau K. über das Leben nach dem Brief.

Parlamensch: Frau K, im Vorgespräch sagten Sie, dass seitdem viel in ihrem Leben passiert sei. Lassen sie uns dennoch chronologisch beginnen, am besten mit dem Brief.

Anna K.: Der Tag begann, wie jeder andere Dienstag auch. Nach dem Frühstück brachte ich die Kinder zur Schule. Danach fuhr ich zum Einkaufen und erledigte unterwegs noch einige Dinge. Als ich zuhause den Briefkasten öffnete, lag da neben einigen Rechnungen, die noch an das Ehepaar K. adressiert waren, noch ein unscheinbarer Brief, der explizit an mich adressiert war.

Parlamensch: Und dieser Brief war offizieller Natur.

Anna K.: Ja. Zunächst dachte ich, es ginge vielleicht um den Sorgerechtsstreit, Anwaltspost hatte ich in letzter Zeit ja öfter erhalten. Aber der Absender passte nicht.

Parlamensch: Das Ministerium für innere Sicherheit.

Anna K.: Auch, wenn man eigentlich nichts Unrechtes getan hat, beschleunigt das natürlich den Puls ungemein. Da geht einem alles Mögliche durch den Kopf.

Parlamensch: Nachvollziehbar. Hatten Sie zu diesem Zeitpunkt schon von Z-241-35 gehört?

Anna K.: Ich habe nur am Rande mitbekommen, dass die Regierung wohl den Bürgern mehr Mitspracherechte einräumen will. Um ehrlich zu sein verfolge ich das aktuelle Nachrichtengeschehen nicht mehr auf täglicher Basis, dafür fehlt mir momentan einfach die Zeit. Und auch etwas die Kraft.

Parlamensch: Entsprechend überrascht waren Sie dann vermutlich auch?

Anna K.: Überrascht und vor allem überfordert. Hätte ich nicht gewusst, dass es einen politischen Stimmungswechsel gibt, hätte ich es vermutlich für einen Scherz gehalten. Man muss sich das einmal vorstellen: Man kommt nach Hause und plötzlich ist man ohne eine Wahl zu haben Politikerin und soll Dinge entscheiden, Gesetze erlassen und was nicht sonst noch alles.

Parlamensch: Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?

Anna K.: Ich habe die Kinder von der Schule abgeholt, die Zeit bleibt schließlich nicht stehen. Dann habe ich gekocht, wir haben Hausaufgaben gemacht, waren im Park spielen und der Größere musste um Fünf ins Fußballtraining. Danach gab es Abendessen, wir haben eine halbe Stunde zusammen ferngesehen und dann war Schlafenszeit. Erst dann hatte ich endlich einige ruhige Minuten, mich mit dieser Situation zu befassen. Zunächst habe ich mich vor dem Computer gesetzt und einige Nachrichtenportale besucht um den Brief zu verifizieren – insgeheim hatte ich noch die Hoffnung es würde sich als schlechter Scherz auf meine Kosten auflösen.

Parlamensch: Doch dem war nicht so.

Anna K.: Leider, nein. Ich wurde scheinbar tatsächlich ‚auserwählt‘, wie die Medien es nennen. Was für ein bescheuerter Begriff. Man denkt dabei an einen Helden, der ein Schwert aus einem Stein zieht, den Drachen tötet und am Ende leben alle glücklich und zufrieden, sollten sie nicht gestorben sein. Doch so ist es nun einmal nicht im Leben.

Frau K. bitte um eine kurze Pause. Das Gespräch wurde unterbrochen und nach 20-minütiger Unterbrechung fortgesetzt.

Parlamensch: Wir waren stehen geblieben, als Sie Ihre Legitimation verifizierten.

Anna K.: Ja. Der Brief war echt. Daran bestand nun kein Zweifel mehr. Mein Name stand ja auch auf dieser ominösen Liste, die bereits im Internet kursierte. Trotz fortgeschrittener Stunde war an Schlaf nicht mehr zu denken. Ich brühte mir eine Tasse Kaffee und setzte mich wieder an den Schreibtisch – es half ja alles nichts.

Parlamensch: Sie überlegten also, was Sie nun tun sollten?

Anna K.: Scheinbar musste ich etwas tun. Der Brief war sehr eindringlich formuliert, mir schien es nicht so als ob ich eine Wahl hätte. Ich erstellte zunächst eine Liste mit Dingen, die die Gesellschaft belasten. Anschließend erstellte ich eine Liste mit möglichen Interventionen, sprich mit Gesetzen.

Parlamensch: Können Sie hierbei konkrete Beispiele nennen?

Anna K.: Bitte haben Sie Verständnis dafür, wenn ich an dieser Stelle nicht ins Detail gehe. Meine Schritte werden momentan eh schon von vielen Augenpaaren verfolgt. Ich möchte heute über meine Situation zu sprechen und kein weiteres Öl ins Feuer gießen.

Parlamensch: Das ist verständlich. Wie ging es mit dieser Liste weiter?

Anna K.: Es gab einfach zu viele Dinge, die die Gesellschaft belasteten und keine Lösung, die nicht zulasten eines anderen Problems ginge. Ich löschte das Dokument und ging zu Bett, bis die Kinder zur Schule mussten waren es kaum noch drei Stunden.

Parlamensch: Eine kurze Nacht.

Anna K.: In der Tat.  Und es sollte nicht die letzte dieser Nächte bleiben. Diese ganze Sache zerrt nicht nur an den Nerven, sie nimmt mich auch körperlich sehr mit. Und das war alles noch, bevor die Besuche begannen.

Parlamensch: Die Besuche?

Anna K.: So nenne ich es, wenn wieder jemand vor unserer Haustür steht und sich mit mir über die Legitimation unterhalten möchte. 

Parlamensch: Wie oft kommt das vor?

Anna K.: In den ersten Tagen nach Bekanntgabe durch die Liste waren es wohl so um die 20 Personen pro Tag. Journalisten, Vorsitzende örtlicher Parteiverbände, aber auch Privatpersonen. Alle wollten sich mit mir über die Legitimation unterhalten, ob ich schon einen Plan gefasst hätte und was sie an meiner Stelle tun würden. Teilweise waren es auch sehr eindringliche Vorschläge.

Parlamensch: Wurden Sie bedrängt?

Anna K.: Sicherlich kennen Sie die Situation, wenn jemand an ihrer Tür klingelt und Geld für eine wohltätige Einrichtung einsammeln möchte. Wenn Sie denken, dass es schon nicht leicht ist, sich mit diesen Leuten freundlich, aber bestimmt zu unterhalten, dann stellen Sie sich einmal den Faktor vor, wenn es hierbei anstatt um die monatlichen Kleinstspende nun um eine politische Einflussnahme auf der höchsten Ebene geht.

Parlamensch: Das klingt belastend.

Anna K.: Das ist es. Neulich hatte ich Besuch von einer alten Schulfreundin. Es tat gut nach all den Ereignissen der letzten Tage ein vertrautes Gesicht zu sehen, dass sich für mich als Mensch und nicht als politisches Spekulationsobjekt interessierte. Ich kam etwas zur Ruhe und konnte erstmals seit Tagen wieder entspannt durchatmen. Sie bot mir an die Kinder hin und wieder von der Schule abzuholen, sodass ich mich etwas auf meine neue Aufgabe konzentrieren konnte. Der Vorschlag fühlte sich warmherzig und mitfühlend an – und ich nahm ihn dankend an.

Parlamensch: Sie sagten der Vorschlag „fühlte sich an“. War er es denn auch?

Anna K.: Die Antwort darauf ist: Ich weiß es nicht. Meine Freundin ist im Tierschutz politisch sehr aktiv. Das war sie schon immer und ich fand das immer gut. Als sich jedoch meine Tochter in letzter Zeit immer besorgter um die Kühe und Schweine, „die doch eigentlich viel zu groß für so kleine Ställe“ sein, sorgte, wurde ich stutzig. Das war ein Thema, welches sie davor nicht zu beschäftigen schien. Daraufhin beschloss ich, meine Kinder nun wieder selbst in die Schule zu fahren. Ich weiß momentan einfach nicht, wem ich noch vertrauen kann.   

Parlamensch: Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht ihre Legitimation zu übertragen? Derzeit gründen sich viele Agenturen und Interessensgruppen, die diese Last dankend von Ihren Schultern nehmen würden?

Anna K.: Mehr als einmal. Natürlich sind mir die Agenturen ein Begriff und die Abgabe der Legitimation die emotional naheliegendste Lösung des Problems. Doch hier stellt sich natürlich die Frage nach deren Motiven. Von Altruismus sollte hierbei nicht ausgegangen werden, auch wenn ihre Werbespots genau dieses Gefühl vermitteln wollen: „Vertrau mir, ich nehme dir diese große Bürde.“ Doch was kommt danach? Momentan zeichnen sich die Folgen der bisherigen Überschreibungen einfach noch nicht genug ab, um die tatsächliche Wirkung einschätzen zu können.

Parlamensch: Bliebe noch die Option egoistisch zu handeln, wer würde schließlich eine Entscheidung treffen wollen, die ihn nicht auch selbst begünstigt?

Anna K.: Auch dieser Gedanke kam mir bereits. Es ist ja nicht so, als ob ich nicht auch eigene Probleme hätte, die möglicherweise mit einem einzigen erlassenen Gesetz passé wären. Doch stellen Sie sich einmal vor, ich treffe eine Entscheidung, die erstlinig mir zugute käme. Dies würde ein gewaltiges Echo verursachen, die Folgen wären unabsehbar.

Parlamensch: Andererseits wurden ja explizit Sie ausgewählt eine Entscheidung zu treffen, die Kompetenz wird Ihnen also im Vorfeld zugesprochen.

Anna K.: Niemand weiß so ganz genau, wie das Auswahlverfahren funktioniert. Es könnte auf Zufall basieren, dafür ergeben sich aber Muster, die mit einer Normalverteilung nur schwer vereinbar sind. Zumindest liest man das in den Kommentarspalten diverser Artikel immer wieder. Ich weiß nur eines: Aktuell bin ich sicherlich nicht in der Lage dazu eine solche Entscheidung endgültig fällen zu können. Aber ich muss wohl.

Parlamensch: Sie haben das letzte Wort. Möchten Sie unseren Leser*innen abschließend gerne noch etwas mitteilen?

Anna K.: Bitte, und ich bitte Sie inständig darum, geben Sie mir die Zeit in Ruhe eine Entscheidung treffen zu können. Ich denke ich spreche im Namen aller ‚Auserwählten‘, wenn ich sage, dass ich niemals auf eine solche Situation vorbereitet wurde. Ich gebe mein Bestes, bitte setzen Sie mich nicht weiter unter Druck.

Parlamensch: Vielen Dank für das Gespräch Frau K.